Zur Ausstellung "Zustandsaufnahmen“ von Marco Thiemann

von Prof´in Dr. B. Wichelhaus

Auf den ersten Blick erscheint die Malerei von Marco Thiemann relativ homogen zu sein. Das Subjekt ist der Mensch, vorrangig die Frau. Im Blickpunkt steht das menschliche Gesicht und der Körper, zum Teil fragmentiert auch entblößt. Die Köpfe sind häufig angeschnitten mit auffällig großen Augen, die auf das Sehen und Erkennen aber auch Gesehen- und Angeschautwerden hinweisen und Händen in expressiver Gestik, die Annäherungen und Abweisungen gleichermaßen zum Ausdruck bringen.
Bei näherer Betrachtung werden komplexe formalästhetische Zusammenhänge sichtbar, z. B. im Umgang mit Körperproportionen, bezogen auf Komposition und Raum im Bild. Komplizierte Positionen, z.B. eigenartige Rückenansichten, Kauer- oder Liegestellungen, manieristische Drehungen etc. führen zu Verkürzungen und Überschneidungen.
Die bildnerischen Lösungen entstehen durch Licht und Schatten oder Farbmodulationen durch Kontur und Schraffur, in der dynamischen Strichführung und einem flächigen Farbauftrag. Dabei überrascht der Wechsel des Fokus auf den Menschen, vom Gesicht zum Körper und umgekehrt. Die Plastizität der Formen werden übersteigert, wirken komisch, karikierend oder surreal. Gleichzeitig wird die innere Struktur, der Körperaufbau und seine Bewegungen erfaßt. Vor diesem Hintergrund wird auch der Umgang mir der Körperhülle, mit der Haut verstehbar. Selbst dort, wo die als nackte Haut, z.B. im Dekolleté oder am unbekleideten Körper sichtbar wäre, geht es Marco Thiemann nicht um Realität, nicht um Falten, Behaarung, Körpertemperatur etc., sondern um Haut als eine mehrfarbige Hülle, die die Dynamik des Körpers widerspiegelt und sie in der Gestaltung des Raumes weiterführt, steigert und auflöst.
Man gewinnt den Eindruck, daß der Künstler auf der Suche nach einem Innenbild des Menschen ist. Neben der Auseinandersetzung mit dem Motiv und den Motivstrukturen wird diese Suche vor allem als ein ästhetisches Problem über die Form thematisiert.

Auch in den übermalten Fotokopien, Portraits von Studierenden, einer zweiten Werkgruppe, taucht diese Thematik auf. Dokumentation einerseits und Imagination anderseits gehen dabei eine merkwürdige Synthese ein.
Das Gesicht, über zwei apparative Medien, den Fotoapparat und den Kopierer verändert, verfremdet, gewinnt durch die Übermalung eine neue Qualität. Obwohl die Übermalung ähnlich wie bei A. Rainer eine Möglichkeit der Aneignung des Motivs und seiner Abbildung ist, arbeitet Marco Thiemann weniger destruktiv. Die formalen Strukturen des Rohmaterials bleiben in der Übermalung erhalten, der Portraitierte noch identifizierbar. Dabei wird eine dekorative Tendenz sichtbar, die durch die Ausdrucksdynamik, meist reiner Farben, gebrochen wird. Abstraktionen, Verzicht auf Plastizität durch Hell- und Dunkelabstufungen und Konkretionsprozesse durch expressive Farbgebungen konstruieren die "neuen“ Abbilder.